Ohne Boss geht es nicht? Mutige Unternehmen wagen den Schritt in die Selbstorganisation ganz ohne Chef und beweisen das Gegenteil.

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Das New-Work-Experiment: Mutige Unternehmen machen es vor

Man mag es kaum glauben, aber: Es geht auch ganz ohne Chef, der klassisch-hierarchisch führt. Im baden-württembergischen Herrenberg haben sich die Mitarbeiter des städtischen Bauhofs von ihrem Chef verabschiedet. Nicht nur für einen Tag. Sie haben den Chefposten nach der Pensionierung nicht neu besetzt. Das Team organisiert sich nun seit mehreren Jahren selbst. Auch Preise gab es dafür schon. So konnte die Auszeichnung „Bestes Modernisierungsprojekt 2020“ des eGovernment-Wettbewerbs in Berlin entgegengenommen werden.

Das Konzept hinter dem Projekt „Startup Bauhof“: Niemand wird ausgeschlossen. Jeder, der Interesse und Skills mitbringt, darf im dynamischen Führungsteam, das sich monatlich abwechselt, Leitungsaufgaben übernehmen – ganz anders, als es bei konservativen Führungsstrukturen der Fall ist. Denn die Mitarbeiter hätten es sattgehabt, dass „der Meister die Lorbeeren“ geerntet habe für die Aufgaben, die eigentlich die Belegschaft erledigt hätte.

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Das New-Work-Experiment habe dazu geführt, dass Mitarbeiter sich weniger oft krankmelden. Zudem sei die Motivation gewachsen: Die Produktivität sei um 20 Prozent gestiegen, was darauf hindeutet, dass auch die Leistungsbereitschaft angestiegen ist, seit es keine klassische Hierarchie mehr im Unternehmen gibt. Motivation ist hier auch das Stichwort, denn immer wieder ist die Rede von unmotivierten Arbeitnehmern in Deutschland – und häufig wird ein Zusammenhang zwischen der Motivation von Mitarbeitern und der Führungskultur eines Unternehmens hergestellt.

Schon gewusst?

Der schwäbische Betrieb ist keinesfalls das einzige Unternehmen, das sich an ein solches Experiment gewagt hat. Deutschlandweit gibt es immer wieder mutige Ex-Führungskräfte und Mitarbeiter, die bereit sind, Verantwortung abzugeben und anzunehmen, um verschiedene Kräfte, Talente und Skills des Teams zu bündeln und selbstorganisiert zu arbeiten. Sie trauen sich, klassische Führungsstrukturen abzuschaffen. Dazu gehören zum Beispiel die Unternehmen „Traum-Ferienwohnungen“ oder „comspace“.

Projektbegleitende Psychologin: Mitarbeiter wollen mehr Sichtbarkeit

Prof. Dr. Claudia Schneider, Diplom-Psychologin und Trainerin für Führungskräfte, begleitet das Bauhof-Experiment. Es sei „ein sehr langer Weg“ gewesen, so die Expertin, um neue Strukturen zu erschaffen. Sie stelle grundsätzlich fest, dass viele Mitarbeiter von Unternehmen sich vom Boss nicht gesehen fühlen. Zudem käme es zu weiteren Problem, wie etwa:

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  • keine Förderung der Mitarbeiter
  • fehlende Führungsqualitäten der Vorgesetzten
  • Defizite in der Delegation von Aufgaben

Wichtig sei für Mitarbeiter, dass diese durch die Übernahme von Verantwortung sowie mit der Hilfe von Selbstorganisation vor allem von einem Sinnerleben profitierten. Es sollte möglich sein, eigene Entscheidungen zu treffen, sichtbarer zu werden. Auch auf die Fehlerkultur käme es an. Wer Verantwortung übernimmt, muss auch für Fehler einstehen. Dies gehöre zur Selbstorganisation dazu.

Schneider: Nicht jedes Unternehmen eignet sich als Firma ohne Chef

Obwohl New Work für moderne Ansätze und Firmen ohne starre Führungsstrukturen steht, ist die Umsetzung keinesfalls ein Spaziergang. Mehr noch: Einige Unternehmen seien schlichtweg nicht dafür geeignet, diesen Weg zu gehen, so Experten wie Schneider, die derartige Projekte von Beginn an begleiten und nicht nur die Vorteile, sondern auch die Herausforderungen kennen.

Sie berät Teams und Unternehmen. Zum Einsatz kommt ihr sogenanntes „Reifegradmodell“, mit dessen Hilfe eine Evaluierung stattfinden kann. Das Modell soll messen, ob Selbstorganisation für das jeweilige Unternehmen oder Team realistisch ist. Sie komme manchmal zum Schluss, dass sie von einer solchen Umstrukturierung abraten müsse, wenn wichtige Voraussetzungen fehlen.

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Was braucht es, um ohne Chef arbeiten zu können?

Laut Schneider brauchen Unternehmen, die erfolgreich selbstorganisiert arbeiten möchten, Folgendes:

1. Menschen im Team, die spezifische Persönlichkeitseigenschaften besitzen

Fachexpertise reicht heute selten aus, um in selbstorganisierten Teams arbeiten zu können. Unternehmen, die sich wünschen, ohne klassische Hierarchien auszukommen, brauchen die passenden Menschen im Team, die über Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen und Kommunikationsstärke verfügen. Nur so ist es möglich, Konflikte zu lösen und offen über Probleme zu sprechen, die immer wieder aufkommen werden.

2. Ein gutes, starkes Teamklima

Auch wenn einzelne Mitarbeiter wichtige Eigenschaften mitbringen, um ein Team zusammenhalten zu können: Das genügt noch nicht. Generell komme es auch auf das Teamklima an, so Schneider. Ein gutes Teamklima kann bedeuten:

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  • Es ist Vertrauen vorhanden.
  • Jedes Mitglied wird geschätzt.
  • Auch in herausfordernden Situationen gibt es Zusammenhalt.
  • Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, ist ausgeprägt.
  • Es sind Fairness, Respekt und Offenheit vorhanden.
  • Es wird eine gesunde Fehlerkultur gelebt.

Welche Probleme können auftreten, wenn ohne Chef gearbeitet wird?

1. Risiko einer möglichen Schatten-Hierarchie

Gruppen sind nie ganz hierarchiefrei. Es gibt sie überall, auch wenn sie scheinbar abgeschafft werden. Deshalb besteht ein grundsätzliches Risiko, dass es zu sogenannten Schatten-Hierarchien und inoffiziellen Strukturen kommt, über die jedoch nicht offen gesprochen wird. Das bedeutet: Möglicherweise wird der eine oder andere zum „heimlichen Boss“ werden.

2. Niemand will Verantwortung tragen

Die Übernahme von Verantwortung und Selbstverantwortung zählt zu den größten Hürden. Wer ohne Chef arbeiten will, muss bereit sein, sein eigener Chef zu sein. In der Theorie klingt das nach besonders viel Freiheit und Flexibilität. In der Praxis hat beides seinen Preis: Es bedeutet, über sich hinauszuwachsen, Fehler nicht zu verschleiern und sein Bestes zu geben, manchmal mehr, als man es in einem normalen Chef-Angestellten-Verhältnis tut.

Selbstorganisation ist mit Selbstdisziplin verbunden – und sie kann manchmal erschöpfend sein, weil sie fordernd ist. Nicht jeder hält diesen Druck aus und ist froh, doch einen Chef zu haben, um Dienst nach Vorschrift zu machen.

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Kurz: Veränderungen funktionieren nur, wenn Veränderungsbereitschaft vorhanden ist – und diese hat oft einen Preis, der Kompromisse erfordert, so auch bei der Umsetzung eines solchen New-Work-Konzeptes.

3. Die Aufteilung der Zuständigkeiten führt zu Problemen

„Du lungerst doch nur herum!“

Solche Vorwürfe sind keine Seltenheit, wenn selbstorganisierte Teams feststellen müssen, dass ein Ungleichgewicht herrscht. Es kann zu Problemen und Konflikten kommen, wenn die Aufteilung von Zuständigkeiten zur Disbalance führt. Dies ist jedoch überall dort natürlich, wo Menschen aufeinander treffen.

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4. Keine festen Stellentitel können abschreckend wirken

Für Mitarbeiter, die es bisher nur kannten, in Unternehmen mit klassischer Hierarchie zu arbeiten, kann der Übergang von einer festen Stelle zur „Rolle“, die immer anders sein kann, schwierig sein. Die fehlende Stellenbezeichnung, die in selbstorganisierten Teams häufiger vorkommt, ist ungewohnt, sodass es auch zu Problemen mit der eigenen Berufsidentität kommen kann: „Wer bin ich nun eigentlich?

Fazit: Teams ohne Chef funktionieren – aber nicht jedes Team eignet sich

Eine Arbeitswelt ohne klassische Hierarchien kann es unter bestimmten Voraussetzungen geben. Die Offenheit gegenüber neuartigen Führungsmodellen etwa zählt dazu, aber auch die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen. Stimmt das Teamklima hingegen nicht und sind zu wenig Mitarbeiter mit den erforderlichen Persönlichkeitseigenschaften vorhanden, kann es schwierig werden.

Wichtig: Die Abschaffung von klassisch-hierarchischen Strukturen bedeutet nicht „Hierarchie-Freiheit“. Vielmehr geht es um eine Neuauslegung von Führung und das Mitspracherecht von Mitarbeitern, die ihre eigene Arbeit gestalten. Nicht ein einzelner Chef sitzt an der Spitze, sondern das Team, das verschiedene Stärken und Fähigkeiten vereint, trifft sich gemeinsam auf Augenhöhe.

Bild: mediaphotos/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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