Arm trotz Erwerbstätigkeit: Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zeigen, dass 2021 etwa 7,8 Millionen Menschen hierzulande einem Niedriglohnjob nachgingen.

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Am 1. Oktober 2022 war es so weit: Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn kletterte offiziell auf 12 Euro. Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) soll dieser neue Lohn dafür sorgen, dass Menschen, die bisher beispielsweise 1.700 Euro brutto im Monat erhielten, nun rund 2.100 Euro brutto verdienen.

Betroffene aus dem Niedriglohnsektor können aufatmen, wenn wir einen Blick zurück in die Vergangenheit riskieren: Laut Destatis mussten 7,8 Millionen Angestellte im April 2021 – das sind insgesamt 21 Prozent und jeder 5. Beschäftigte – in einem Niedriglohnjob arbeiten. Der Verdienst in Vollzeit war für viele zu gering, um davon vernünftig leben zu können. Aber ausreichend, um zu überleben.

Auch der Mindestlohnanstieg ist kein „Retter in Not“, weil die Not aktuell wächst

Dennoch hält das Aufatmen nicht lange an. Angesichts der aktuellen Preisexplosionen in Sachen Energie und Lebensmittel schwinden alle Hoffnungen auf eine spürbare Besserung schnell. Trotz Lohnsteigerung kämpfen viele Haushalte in Deutschland mit ihrer finanziellen Situation.

Ist die Erhöhung des Lohns also etwas wert – oder bleibt es im Niedriglohnsektor weiterhin schwierig? Fakt ist, dass die Inflation im Oktober 2022 bei einem Rekordhoch von über 10 Prozent lag. So wird schnell deutlich, dass Angestellten auf dem Konto nicht viel vom Gehaltsplus bleibt. Die so sehnsüchtig erwartete Mindestlohnerhöhung wirkt wegen der horrenden Preise etwas blass.

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Wenig Perspektive für Beschäftigte im Niedriglohnsektor

Einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) nach weisen die Daten der Forschung darauf hin, dass es geschlechtsspezifische, altersbedingte und regionale Unterschiede bei den Verdiensten im Niedriglohnsektor gibt: Besonders häufig betroffen von niedrigen Löhnen seien allen voran Frauen. Auch jüngere Menschen verdienen dem Bericht nach vergleichsweise wenig. Im Osten lagen die Löhne generell etwas niedriger, wobei es zu Verbesserungen gekommen ist.

Dass nicht alle Menschen einen Job im Niedriglohnsektor als eine Art Karrierehelfer für einen besseren Job nutzen können, machen Zahlen einer Untersuchung des Deutschen Wirtschaftsinstituts (DIW) deutlich: Die Lohnmobilität sei gering. Denn mehr als 60 Prozent der Geringverdiener:innen würden es nicht schaffen, finanziell aufzusteigen. Dabei sollte die Ausweitung des Sektors ursprünglich auch dazu verhelfen, Betroffene ohne Job und Perspektive Aufstiegschancen zu ermöglichen und die Arbeitslosenquote zu senken. Letzteres war erfolgreich, aber einen Aufstieg schaffen nur wenige.

Wie steht Deutschland im Vergleich zu den anderen EU-Staaten dar?

Nach Angaben des Destatis wäre 2018 in ca. 15,5 Prozent der gesamten europäischen Beschäftigungsverhältnisse ein Niedriglohn gezahlt worden. Ob Getränke ausschenken, Essen liefern oder Taxi fahren: Im internationalen Vergleich wird dabei schnell deutlich, dass die Bundesrepublik zu den Ländern mit den meisten Niedriglohnbeschäftigten gehört. Die Niedriglohnquote im Jahr 2018 lag hierzulande demnach bei über 20 Prozent. Zum Vergleich: In Finnland wären es lediglich 5 Prozent gewesen und in Portugal nur 4 Prozent der Beschäftigten, die in Jobs mit besonders niedrigen Löhnen arbeiteten. Mit 3,6 Prozent sollen die Schweden nur wenige Niedriglohnbeschäftigte gehabt haben.

Was bedeutet es eigentlich, für einen „Niedriglohn“ zu arbeiten?

Laut OECD-Angaben verdienen die Menschen einen Niedriglohn, die mit „weniger als zwei Drittel“ vom eigentlichen Medianeinkommen auskommen müssen. Das bedeutet, dass Beschäftigte im Niedriglohnsektor mit ihrem Verdienst – trotz Vollzeitjob – deutlich unter dem mittleren Einkommen liegen. Es ist ein schwieriges Pflaster: Wer sich bisher dort wiedergefunden hat und etwa als Florist:in oder Berufskraftfahrer:in im Personentransport arbeitete, verbrachte oft mehr als 40 Stunden pro Woche auf der Arbeit, und das für einen miserablen Lohn. Ein (kleines) Trostpflaster ist heute der Lohnanstieg.

Ökonom:innen streiten sich dennoch: Einerseits sei ein Job besser als gar kein Job. Andererseits leben Menschen in Armut – und das trotz Arbeit in Vollzeit. Professor für Gesellschaftsanalyse Sighard Neckel ist überzeugt, so berichtet das Magazin Stern, dass die Mittelschicht generell schrumpfen würde. Folglich würden die Abgleitenden, so der Soziologe, irgendwann in der Unterschicht landen. Mit den finanziellen Problemen wird auch der soziale Status bedroht. Dabei genoss Deutschland früher den Ruf, ein „Hochlohnland“ zu sein. Erst nach dem Ausbau des Niedriglohnsektors geriet die Einkommensstruktur ins Wanken.

Wichtig: Nicht immer bedeutet ein Job im Niedriglohnsektor, dass wir in die Armut abdriften. Es gilt, den Kontext und wichtige Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Wer zum Beispiel einem Niedriglohnjob nachgeht und zudem Alleinverdiener:in ist, muss zwar oft mit weniger auskommen. Für Singles ohne Kinder sieht es im direkten Vergleich aber etwas anders aus, wenn sie ihren Lebensunterhalt gut mit einem Lohn aus dem Niedriglohnsektor bestreiten und wir nicht davon ausgehen, dass Inflation herrscht.

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Weniger Menschen wollen im Niedriglohnsektor arbeiten

Immerhin: Dass Menschen, die zum Beispiel keine Ausbildung genossen haben, mit etwas Mühe, Engagement und Lernbereitschaft auch andere Job als im Niedriglohnsektor annehmen können, ist heute wahrscheinlicher als früher. Auch wenn es immer noch Herausforderungen gibt: Wegen des Fachkräftemangels werden in vielen Branchen Quereinsteiger:innen gesucht, die geschult werden, um im Job einsteigen zu können.

Gut für die, die – unter anderem seit Corona – nicht mehr in der Gastronomie oder im Einzelhandel für einen niedrigen Lohn arbeiten möchten. Die Stimmung ist in Deutschland zu spüren: Die eher unattraktiven Arbeitsbedingungen, die Betroffene während des Einräumens der Regale, beim Kellnern oder beim Ausliefern von Paketen vorfinden, akzeptieren sie immer weniger. Denn die eindeutigen Forderungen nach fairen Löhnen und Arbeitszeiten werden zunehmend lauter. Auch Wertschätzung und Work-Life-Balance sind gefragt.

Auf der anderen Seite bedeutet es, dass der Personalmangel weiter steigen wird, wenn Beschäftigte kündigen und andere, bessere Perspektiven für sich suchen. Arbeitgeber:innen und auch dem Staat bleibt nichts anderes übrig, als attraktivere Konditionen zu schaffen, um Jobkandidaten für eine entsprechende Position zu begeistern.

Corona und Inflation verschärfen die Lage für Geringverdiener:innen

Wer bisher mit niedrigen Löhnen abgespeist worden ist, hat die Konsequenzen vor allem während der Pandemie zu spüren bekommen. Die Möglichkeit, Rücklagen zu bilden, haben Betroffene häufig nicht. Denn sie müssen mit dem auskommen, was auf ihrem Konto landet – und das Monat für Monat. Wer seinen Job verloren hat, war und ist auf Hilfe vom Staat angewiesen. Trotz Aufstockung während eines Beschäftigungsverhältnissen reicht das Geld nicht immer aus.

Nach Corona dann noch die Inflation, welche seit mehreren Monaten stetig bei über 7 Prozent verweilt und auch die 10-Prozent-Marke geknackt hat. Es ist bereits die Rede von einer drohenden „Hyperinflation“, welche an die 20er Jahre erinnern könnte. So weit muss es zwar nicht kommen. Wer unter diesen Umständen aber immer noch Geringverdiener:in bleiben muss, wird in Zukunft mit noch härteren Lebensumständen zu tun bekommen.

Die Realität ist: Auch in Ländern mit fortgeschrittenen Sozialsystemen, etwa wie in Deutschland, trifft es stets die Einkommensschwachen, wenn es zu nationalen und globalen Krisen kommt. Der Niedriglohnsektor ist zwar eine Chance (gewesen). Aber auch eine Sackgasse, in der noch immer nach Auswegen gesucht werden muss. Eine Lohnerhöhung genügt nicht, um Geringverdiener:innen Perspektiven zu geben, die langfristig ausgelegt sind und auch in Krisen funktionieren.

Bildnachweis: Andreas Steidlinger/istockphoto.com

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Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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