Kinder müssten leisten, funktionieren, Akademiker werden. Ein Problem der Hochleistungsgesellschaft, sagt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm.

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Neben den Helikopter-Eltern, die für ihre überbehutsame Art der Erziehung bekannt sind, existieren unter anderem die leistungsorientierten Überleister-Eltern. Hierin sieht die renommierte Begabungsforscherin und Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Margrit Stamm ein Problem: Zuhause drehe es sich um Schule, der Leistungsdruck wachse und Kinder würden von ihren Eltern angetrieben werden, um noch mehr zu schaffen und zu Overachievern zu werden.

Welche Arten von Overachievern gibt es?

Sie nennt sie „Überleister“: Kinder, die zu Overachievern gemacht oder gedrängt werden, weil es die Hochleistungsgesellschaft mit ausgeprägtem Konkurrenzdenken so vorlebt. Stamm unterscheidet vier Arten von Überleister-Typen unter Kindern:

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  1. Die Überleister, die zum Erfolg geführt werden: Kinder, die erfolgreiche, bildungsorientierte Eltern haben und von ihnen gefördert und gepusht werden.
  2. Die Überleister, die unter Druck stehen: Kinder, deren Leistung und Noten nicht immer einwandfrei sind und die oft auch Lernprobleme haben, bei denen Mütter und Väter dennoch darauf bedacht sind, dass ein höherer Bildungsabschluss erreicht wird.
  3. Die Überleister, die ambitionsbelastet aufsteigen: Kinder, die nicht aus einer hohen sozialen Schicht kommen, von denen aber erwartet wird, dass diese Großes leisten und aufsteigen.
  4. Die Überleister, die intrinsisch motiviert sind: Kinder, die aus eigener Überzeugung starke Leistungen anstreben, ohne gedrängt zu werden.

Was ist charakteristisch für Überflieger?

Erziehungswissenschaftlerin Stamm weist darauf hin, dass die vier Überleister-Typen mit Zweifeln an sich selbst ringen. Weil Kinder sich mitten in ihrer Identitätsfindungsphase befinden, ist es wichtig, sie dabei zu unterstützen, ihren Selbstwert zu stärken. Basiert der Selbstwert jedoch auf Leistung, ist es fraglich, ob sie sich auch ohne etwas leisten zu müssen stark und selbstsicher fühlen können.

Vor allem spielt die Versagensangst eine bedeutende Rolle, weil sie sich für Kinder existenziell bedrohlich anfühlt. Sie ist das, was Menschen, die auf Leistung trainiert werden, um jeden Preis verhindern wollen.

Leistungsdruck als Kultur: Was läuft schief?

Es existieren Arbeiterkinder aus einfachen Verhältnissen, die weniger privilegiert aufwachsen, es aus eigenem Antrieb heraus aber schaffen, aufzusteigen. Dies seien ca. 24 Prozent der Kinder, so die Wissenschaftlerin. Wenn die Eltern jedoch Akademiker seien, würde etwa 88 Prozent des Nachwuchses ebenfalls eine akademische Laufbahn einschlagen.

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Die Akademisierung der Gesellschaft ist Teil unserer Hochleistungsgesellschaft. Die Kultur präge auch Lehrer und Eltern, die sich dieser Dynamik beugten. Als Folge stünden Väter und Mutter selbst unter Erwartungs- und Leistungsdruck. Sie designen und trainieren demnach ihren Nachwuchs so, dass dieser ins Rollenbild des fleißigen Kindes passt, welches später beruflich aufsteigt und zum Overachiever wird.

Überleister stehen jedoch permanent unter Druck. Wer es nicht schafft, die beste Note zu schreiben, den ersten Platz zu belegen oder mehrere Fähigkeiten zu beherrschen, fällt aus dem Raster. So beginnen auch Kinder, sich über Leistung zu definieren – und alles andere abzuwerten, was unter dem „Besten“ liegt.

Förderung von Kindern ist wichtig für das spätere Berufsleben

Kinder früh zu fördern und sie dabei zu unterstützen, ihre Identität zu entwickeln, hat, wenn alles richtig läuft, viele Vorteile. So fällt es ihnen später leichter, einen Beruf zu erlernen und in der Arbeitswelt anzukommen. Sie entwickeln ein starkes Selbstwertgefühl und sie können mit Rückschlägen umgehen, wenn sie wissen, dass Leistung ein Teil des Lebens ist, sie aber nicht ausschließlich definiert.

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Ein häufiges Problem ist, dass nicht auf die Fähigkeiten der Kinder, sondern auf das, was sie später werden sollen, eingegangen wird. Überspitzt formuliert: Akademikereltern, die Ärzte sind, lenken ihren Nachwuchs vielleicht in Richtung Medizinstudium. Arbeiterkinder sollen hingegen einen „vernünftigen Beruf“ erlernen und empfinden es hinterher, wenn sie ihren eigenen Weg beschreiten, als Herausforderung, ihren Eltern darzustellen, warum sie unbezahlt in einem Studium „herumlungern“, ohne arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen.

Aufgrund der Elternbiografien haben Kinder es schwer, nicht in die eine oder andere Leistungsschiene gedrängt zu werden. Wird nicht die Karriere der Kinder vorgeplant, sondern auf die individuellen Fähigkeiten eingegangen, profitiert der Nachwuchs: Sie werden in dem bestärkt, was sie sind und nicht in dem, was Gesellschaft und Familie aus ihnen formen wollen.

Was können Eltern tun, um ihren Nachwuchs nicht zu gefährden?

Obwohl die Absicht vieler Eltern gut ist, nämlich, dass diese ihre Kinder versorgt sehen wollen und ihnen eine sichere Zukunft wünschen, ist die Art und Weise, wie die Erziehung erfolgt, nicht immer förderlich. Jobperspektiven hin oder her: Leistung ist nicht alles – und bietet vor allem keine Basis für charakterliche Selbstsicherheit.

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Der eigene Stress von Müttern und Vätern haben Einfluss auf Kinder, weshalb es in erster Linie wichtig sei, einen Umgang damit zu finden, sagt Stamm. Vor allem berufstätige Eltern kämpfen mit Zeitmangel und Stress. Berufliche Probleme erzeugen Frust und der Nachwuchs ist empfänglich für die Stimmung der Eltern. Finden diese keine gesunden Wege, um ihren Stress zu kompensieren, kann dieser auf Kinder übergehen.

Mehr noch: Kinder fühlen sich schnell verantwortlich für die Stimmung ihrer Eltern, wenn sie nicht gelernt haben, ihre Gefühle von denen der Eltern abzugrenzen. Werden sie verstärkt auf Leistung getrimmt, wollen sie die schlechte Atmosphäre vielleicht wieder über gute Noten, das „Artig-Sein“ oder Erfolge retten und beweisen, dass alles in Ordnung ist.

Schulnoten sind nicht mit Skills gleichzusetzen

Der Versuch, Kinder über Leistung zu definieren, kann sie später zu unsicheren, von Selbstzweifeln geplagten Erwachsenen machen, die in der Berufswelt Überragendes leisten wollen und deshalb eigene Grenzen überschreiten. Für Eltern ist es deshalb wichtig zu verstehen, dass Schulnoten, die sie mit nach Hause bringen, nicht zwangsläufig mit ihren eigentlichen Fähigkeiten gleichzusetzen sind. Wer schlecht in Mathe ist, muss nicht ein talentfreies Kind sein.

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Zudem seien Noten ein Motivationskiller für Kinder, so Stamm, wenn der Leistungs- und Erwartungsdruck dermaßen zunimmt, dass es die Freude am Lernen überschattet. Dennoch bleiben sie für Eltern ein Fokusthema, da sie die Eintrittskarte in eine akademische Laufbahn sind.

Ein achtsamer Umgang mit den individuellen Wesensmerkmalen von Kindern ist wichtiger als Erfolg, um ihnen Stabilität und Selbstvertrauen zu schenken. Erfolgreich können sie später mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin werden, wenn sie aus ihrem starken Selbstwertgefühl schöpfen können, das nicht von äußeren Faktoren abhängt.

Erwartungen: Eltern sollten ihren Leistungsanspruch prüfen

Wie gute Erziehung funktioniert, darüber wird bis heute gestritten. Während einige Ansätze Bedürfnisorientierung in den Vordergrund stellen, gehen konservativere Theorien davon aus, dass Disziplin und eine strenge Hand wichtig seien.

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In einem Punkt sind sich viele Forscher, Pädagogen und Psychologen jedoch einig: Kinder, die mit ihrem individuellen Wesen so akzeptiert werden, wie sie sind, entwickeln zumeist eine größere und auch gesündere Selbstsicherheit in Bezug auf Leistung, Beruf und Karriereentwicklung.

Für Mütter und Väter ist es deshalb wichtig, ihre eigenen Leistungsansprüche an ihre Kinder zu prüfen. Ein Realitätscheck ist überfällig. Aber auch das Bildungssystem steht auf dem Prüfstand, weil es der Hochleistungsgesellschaft unterliegt. Nicht nur Eltern müssen achtsamer werden. In Sachen Bildungspolitik gibt es Luft nach oben.

Bild: Sviatlana Lazarenka/istockphoto.com