„Längere Arbeitszeiten“, so lautet die Antwort des IW-Chefs Michael Hüther auf den Fachkräftemangel. Gibt es Alternativen?

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Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fordert, dass deutsche Erwerbstätige – so wie es auch Arbeitnehmer in der Schweiz tun – mehr arbeiten. Obwohl viele Schweizer immer häufiger Teilzeitmodelle beanspruchen, liegen sie in puncto Arbeitsvolumen im europäischen Vergleich weiter vorne. Längere Arbeitszeiten in Deutschland sollen laut Hüther die Antwort auf das deutsche Fachkräfteproblem sein. Denn, so der IW-Direktor, Zuwanderung reiche dafür nicht aus, während die Kosten für eine Integration ausländischer Fachkräfte wachsen würden.

Hüther warnt vor Stagflation, wenn sich nichts ändert

Wenn deutsche Arbeitnehmer nicht länger arbeiteten, könne es hierzulande zu einer sogenannten Stagflation kommen, warnt der Arbeitsmarktexperte. Damit stellt er eine schlechte wirtschaftliche Prognose für Deutschland in Aussicht. Stagflation beschreibt ein Zusammenspiel von Inflation und Stagnation. Herrscht eine Inflation vor und kann die Wirtschaft nicht wachsen, ist von Stagflation die Rede. Gründe hierfür können zum Beispiel steigende Energiekosten, ein Konsumrückgang und Probleme in der Industrie und Produktion sein.

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Die 4-Tage-Woche sei „unrealistisch“

Obwohl nicht von einem flächendeckenden Fachkräftemangel die Rede sein kann, fehlt Personal in einigen Branchen. Aufgrund des demografischen Wandels soll sich die Situation in Zukunft weiter verschlechtern, wie unterschiedliche Prognosen und Hochrechnungen immer wieder ergeben. Ausgebildetes Personal fehlt zum Beispiel in den Bereichen IT, Pflege, Soziales und Gesundheit. Ein Mangel ist seit längerer Zeit auch in den MINT-Berufen zu beobachten.

Man benötige nicht die Diskussion über eine 4-Tage-Woche, findet Hüther. Denn diese sei ein „unrealistischer Traum“, während es jetzt vor allem darauf ankomme, über längere Arbeitszeiten zu diskutieren.

Deutsche Arbeitnehmer wollen nicht mehr, sondern weniger arbeiten

Die Forderungen Hüthers dürften auf geteilte Meinungen treffen, vor allem unter Arbeitnehmern. Beschäftigte wollen tendenziell kürzertreten, wenn sie einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, so die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Sie wünschen sich im Schnitt eine Wochenarbeitszeit von 34,4 Stunden. Mehr als 50 Prozent sehnen sich nach einer Verkürzung ihrer 5-Tage-Woche.

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Flexibilität sowie die Vereinbarkeit von Berufsleben und Familie werden zunehmend wichtiger. Aber auch das Gesundheitsbewusstsein der Deutschen wächst, allen voran in der jungen Generation, sodass lange Arbeitszeiten und Überstunden ohne Ausgleich einer gesunden Work-Life-Balance entgegenstehen.

Soziologe: Beschäftigte leiden bereits jetzt unter Dauerüberlastung

Um zukünftige, aber auch aktuelle Herausforderungen des Arbeitsmarktes meistern zu können, hilft es wenig, den Interessen von (abhängigen) Erwerbstätigen ganz und gar im Weg zu stehen. Zwar könnten längere Arbeitszeiten im Grundsatz eine Antwort auf den Fachkräftemangel liefern, aber Beschäftigte arbeiteten bereits heute länger als in ihren Arbeitsverträgen vereinbart ist, so Arbeitsmarktexperte und Soziologe Prof. Dr. Andreas Hoff. Sie litten unter einer Dauerüberlastung, weshalb die Zahl der Kranken in die Höhe steige. Das Risiko vergrößere sich demnach, wenn die Arbeitszeit verlängert werde.

Seine Idee: Die Rahmenbedingungen für Beschäftigte müssten insgesamt attraktiver werden. Längere Arbeitszeiten, das wollen nicht alle. Aber vor allem Teilzeitbeschäftigte gehörten zu der Gruppe der Beschäftigten, die, wenn sie könnten, durchaus länger arbeiten würden – etwa Frauen, die als Teilzeitarbeitskraft nebenher Kinder betreuen oder Menschen, die sich um Angehörige kümmern müssen.

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Auch Arbeitnehmer, die noch immer in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten, scheiden schneller wieder aus der Berufswelt aus. Zudem fehlt es aufgrund der hohen formalen Hürden an attraktiven Aus- und Weiterbildungsangeboten, um etwa Langzeitarbeitslosen realistische Zukunftsperspektiven bieten zu können.

Alternativen zur Arbeitszeitverlängerung: Was hilft?

1. Gesunderhaltung der aktuellen Fachkräfte zur Vermeidung von Engpässen

Um das Erwerbspotenzial von Arbeitnehmern grundsätzlich nutzen zu können, ist Prävention und Gesunderhaltung unumgänglich. Stressoren am Arbeitsplatz identifizieren, die systematische Auswertung von Gefährdungen vornehmen und von vornherein verhindern, dass Beschäftigte frühzeitig aus der Arbeitswelt aussteigen – in allen Bereichen gibt es Luft nach oben.

2. Frauen am Arbeitsmarkt: Einstiegsmöglichkeiten erleichtern

Vor allem Minijobs und Anstellungen unter prekären Bedingungen bieten wenig Aussicht auf Erfolg und Zukunft für Beschäftigte, sodass hier Verbesserungsbedarf besteht. Ein Aufstieg in attraktivere Positionen und Branchen ist selten möglich, wenn keine entsprechende Fachexpertise oder Ausbildung und Arbeitserfahrung vorliegen. Aufstiegs- und Weiterbildungsangebote, die ohne große Hürden zugänglich zu sein haben, könnten entlasten. Aber auch die Verbesserung der Infrastruktur für Betreuungsangebote ist notwendig, um Arbeitnehmerinnen entlasten zu können und einen Wiedereinstieg ins Berufsleben unter erleichterten Bedingungen zu ermöglichen.

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3. Arbeitgeber in der Pflicht: Attraktive Rahmenbedingungen schaffen

Moderne Personalbindungsstrategien locken Fachkräfte an und sorgen dafür, dass diese der deutschen Wirtschaft auch erhalten bleiben. Doch die Rahmenbedingungen in vielen Unternehmen gelten bis heute als überholt. Der Fokus auf folgende Punkte gilt als vielversprechender Ansatz:

  • Weiterbildungsangebote und individuelle Förderung von Talenten innerhalb des Unternehmens
  • bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie; Flexibilität
  • Gesundheitsangebote
  • Work-Life-Balance
  • Homeoffice-Regelungen

4. Arbeitsmöglichkeiten für ältere Beschäftigte verbessern

Ältere Arbeitnehmer und ehemalige Beschäftigte haben es schwerer, an eine gute Stelle zu kommen, denn viele Unternehmen interessieren sich für junge Nachwuchstalente und High Potentials. Doch Arbeit muss auch für die Generation 50+ wieder attraktiver werden: Auch im Alter sollten Karrieremöglichkeiten geschaffen werden und der Fokus von Unternehmen nicht nur auf den Bedürfnissen der jüngeren Generationen liegen.

Erwerbstätige mit langjähriger Berufserfahrung bringen ein breites Fachwissen und wertvolle Skills mit, welche nach Ausscheiden der Babyboomer-Generation am Arbeitsmarkt fehlen werden. Zudem gibt es die „Stille Reserve“: potenzielle Arbeitnehmer, so das Statistische Bundesamt (Destatis), die gerade nicht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, aber grundsätzlich arbeiten könnten. Dazu zählen auch einige ältere Nichterwerbstätige, die freiwillig aus der Arbeitswelt ausgeschieden sind, weil ihnen die Belastung beispielsweise zu hoch und die Arbeitsbedingungen zu unattraktiv waren.

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Gefahr von längeren Arbeitszeiten: Zunahme des Fachkräftemangels

Die Forderung nach längeren Arbeitszeiten klingt angesichts der aktuellen Lage zwar nachvollziehbar. Doch diese könnte sich dadurch sogar weiter zuspitzen: Wer noch mehr arbeiten muss, ist einer höheren Belastung ausgesetzt, sodass dem Fachkräftemangel nicht entgegnet wird, sondern die Bedingungen sich tendenziell verschlechtern. Damit steigt die Gefahr, dass Erwerbstätige freiwillig aus ihrem Beruf aussteigen oder unfreiwillig aussteigen müssen, wenn körperliche oder psychische Gesundheit eine Erwerbstätigkeit nicht weiter zulassen.

Es sei nachweisbar, dass Menschen, die länger arbeiteten, einem höheren Risiko für Unfälle ausgesetzt seien, so Prof. Dirk Windemuth. Der Experte vom Institut für Arbeit und Gesundheitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung macht damit auf einen entscheidenden Aspekt der Arbeitszeitverlängerung aufmerksam.

Längere Arbeitszeiten eine Möglichkeit – aber alles andere als ideal

Der Ruf nach längeren Arbeitszeiten, wie Hüther sie fordert, ließe sich theoretisch umsetzen, sofern Erwerbstätige tatsächlich flexibler in ihren Entscheidungen wären, Mitspracherecht hätten, Betriebe mehr Anreize schaffen, um Personal zu binden und auch leitende Angestellte die Möglichkeit bekämen, ihre Arbeit in Teilzeit auszuführen.

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Aber praktisch sieht die Prognose für eine flächendeckende Umsetzung eher dunkel aus. Denn mehr Arbeit würde Beschäftigte deutlich in dem einschränken, was sie sich eigentlich wünschen – so zum Beispiel in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ob Erwerbstätige hierzulande wieder mehr arbeiten werden müssen und ob das die Antwort auf den partiellen oder branchenspezifischen Fachkräftemangel ist, diese Frage bleibt nach wie vor offen.

Bild: IMAGO / Future Image

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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