Psychologieexpertin E. Elisabeth Lahti erklärt, warum Finnen ein erfülltes Leben führen – mit einer Weisheit, die über 500 Jahre Tradition hat.

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Was kann erfüllender als Gesundheit, Liebe und Geld sein? Menschen in Finnland wissen es: Es handelt sich um ein kulturelles Konstrukt, welches als „Sisu“ bekannt ist. Deshalb landen sie im Ländervergleich in Sachen Lebenszufriedenheit vermutlich auf dem ersten Platz. Denn der internationale World Happiness Report wird jährlich am Weltglückstag (20. März) veröffentlicht und der diesjährige Report zeigt, dass die Menschen in Finnland insgesamt am glücklichsten sind. Dahinter folgen Dänemark, Island und Israel.

Was ist „Sisu“?

Das wohl am häufigsten gelesene Statement zu „Sisu“ lautet, dass der Begriff sich in keine Sprache übersetzen lässt. Autoren und Glücksforscher sollen es bereits über mehrere Jahrzehnte versuchen, doch gelingen will es nicht so richtig. Eine ungefähre Übersetzung lautet „Entschlossenheit“, „Widerstandskraft“ oder „Mut“, vielleicht auch die finnische Art des Mutes. Das Finnische Ministerium für auswärtige Angelegenheiten beschreibt Sisu unter anderem als „innere Widerstandskraft“, mit der viele Finnen durchs Leben gehen.

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Bereits vor mehr als 500 Jahren soll sich die Tradition etabliert haben und sich durch die finnische Geschichte ziehen. Auch der Kampf um die finnische Unabhängigkeit von Russland war kein einfacher, sodass Soldaten sich bereits mit dem Sisu-Konzept identifiziert haben sollen. Das gesamte Land wird von der Sisu-Mentalität geprägt, heißt es.

Sisu sei unter Umständen „selbstzerstörerisch“, so Lahti

Die studierte Psychologieexpertin und Speakerin Emilia Elisabeth Lahti, die unter anderem zu sozialpsychologischen Themen forscht und international tätig ist, gilt als Sisu-Fachfrau. Das Konzept will gelernt sein. Und es braucht Selbstreflexion. Trotz ihrer Sisu-Begeisterung bleibt Forscherin Lahti realistisch und weist auf die potenziellen Gefahren hin. Demnach heißt es, dass das Konzept unter Umständen auch selbstzerstörerisch wirken kann, wenn wir es zu gut meinen und beharrlich daran festhalten. Dies sei möglicherweise der Grund dafür, eine ausgeprägte Sturheit zu entwickeln, sofern wir es mit Sisu übertreiben.

Es zeigt auch, dass eine blinde Übernahme von Lebenskonzepten nicht zielführend ist und Idealisierung in eine Sackgasse führen kann. Wer etwas verändern möchte, muss ausprobieren und eigenständig entscheiden, inwieweit eine Idee zum realen Leben passt. Insgesamt aber sei Sisu ein guter Weg, um mehr aus dem Inneren schöpfen zu können, eine Möglichkeit, die Gegenwart zu genießen und widrigen Umständen mutig zu begegnen.

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Wie funktioniert Sisu im Alltag?

Lahti beschreibt Sisu als etwas, das jeder in sich trägt – aber nicht jeder ist in der Lage, diese Kraft als Ressource in dunklen Momenten des Lebens zu nutzen. Wie die innere Stärke aktiviert werden kann, erzählt die in Finnland geborene Forscherin auch. Folgende Tipps sollen im Alltag helfen:

1. „Self-parenting“: Sanfter mit eigenen Schwächen umgehen

Wann hast du dich das letzte Mal aufrichtig selbst gelobt – und wann getadelt? Wir neigen häufiger dazu, uns zu verurteilen. Dass wir zu hart mit uns ins Gericht gehen, hat verschiedene Ursachen, die in der eigenen Biografie wurzeln. Bis ins hohe Alter tendiert der Mensch dazu, sich selbst schlechter zu machen, als er tatsächlich ist. Expertin Lahti verweist darauf, eine Balance zwischen der eigenen Härte und dem Selbstmitgefühl zu finden.

Um mehr Sisu im Leben zu haben, empfiehlt es sich, sich eigene Schwächen und Fehler zu verzeihen. Ein bewährtes Konzept hierfür ist das sogenannte „Self-parenting“: Es handelt sich um eine Art der Selbstheilung, um Erfahrungen aus der Kindheit nicht nur durchzuarbeiten, sondern den Umgang mit schmerzhaften Erinnerungen erträglicher zu machen. So liebevoll und nachsichtig, wie wir mit unseren eigenen Kindern umgehen, sollten wir demnach auch mit uns selbst umgehen können.

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2. Mehr Gelassenheit, weniger Stress

Das vegetative Nervensystem unseres Körpers ist zuständig für innere Abläufe und nimmt damit zum Beispiel Einfluss auf Atmung und Blutdruck. In stressigen Phasen droht eine Überreizung, was Anspannungen, körperliche Beschwerden und Unruhe verursacht. Auch unsere Psyche leidet, wenn Dauerstress im Spiel ist.

Um Stress zu begegnen, ist Gelassenheit notwendig – so schwierig und ausweglos eine Situation auch erscheinen mag. Hierbei handelt es sich um den Kern des Sisu-Konzeptes: Um scheinbar unüberwindbare Hürden zu meistern, braucht es einen starken Willen und innere Gelassenheit, um nicht aufzugeben.

Alle Methoden, die dir und deinem Nervensystem Ruhe und Entspannung schenken, eignen sich. Hierzu gehört Folgendes:

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  • Bei Kontrollverlust: Nimm die Situation als das, was sie ist, an. Dinge, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, sind nicht greifbar.
  • Bei Unruhe: Konzentriere dich auf deine Atmung; hole tief Luft und beruhige dich.
  • Bei Angst und Grübelgedanken: Fokussiere dich auf Reales in deiner Umgebung – Menschen, deinen Körper, den du fühlen kannst, Stimmen, die Natur.

3. Sich mit den eigenen Wurzeln verbinden

Um innere Widerstandskraft zu entwickeln, hilft es, die eigene Identität – mit allem, was uns ausmacht – anzuerkennen. Die Flucht vor schmerzhaften Erlebnissen, die vor allem mit Scham sowie Schuldgefühlen verbunden sind, können dazu führen, die eigenen Wurzeln zu leugnen. Resilienz entwickeln wir erst, wenn wir unsere Erfahrungen als Teil unserer Geschichte akzeptieren und integrieren. Sie tragen dazu bei, unsere Persönlichkeit und Haltung zu formen und auf diese Weise mehr Sisu zu entwickeln.

4. Größer denken – nicht nur an sich selbst

Laut Lahti ist es notwendig, sich mit Größerem zu beschäftigen, als wir es normalerweise tun, um zu mehr Sisu im Leben zu gelangen. Das bedeutet: Wir helfen nicht nur uns selbst, sondern tun auch anderen etwas Gutes. In schwierigen Lebensphasen kann eine solche Einstellung dazu verhelfen, aus unserem dunklen Loch zu kriechen, Hoffnung zu schöpfen und sich mit anderen zu verbinden, um zu spüren, dass wir nicht alleine sind. Soziale Verbindungen nähren das Leben und sind wichtig, um Kraft zu tanken.

5. Physische Betätigung kann helfen, Grenzen auszuloten

Sport ist nicht nur ein Mittel, um sich körperlich fit zu halten. Physische Betätigung trainiert auch unsere mentale Widerstandsfähigkeit. Wir können unsere Grenzen austesten und lernen, dass wir in der Lage sind, mehr zu leisten, als wir annehmen. Unser Körper kann außergewöhnlich viel leisten – und gleiches gilt für unsere Psyche.

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Achtung: Mit dem Sport sollten wir es dennoch nicht allzu bunt treiben und uns langsam steigern. Die körperliche Fitness von Laien und Sportlern unterscheidet sich, sodass bereits kleine Fortschritte genügen, um sich aus der Komfortzone herauszubewegen und einen Erfolg zu erleben.

6. Den Moment trotz aller Umstände auskosten

Schließlich geht es nur noch darum, das Genießen zu erlernen – denn das ist das, was letztendlich glücklich und zufrieden macht. Nur wenige Menschen sind in der Lage, ihre Probleme einfach mal beiseite zu schieben. Wer aber die Kunst beherrscht, den Moment auszukosten und in der Gegenwart zu leben, hat bereits Sisu um Leben.

So ausweglos und unerträglich eine Situation auch sein mag: Wichtig ist, nicht wegzuschauen, es auszuhalten und sich dennoch bewusst zu machen, wie viel Stärke und Mut wir besitzen, um auch in den dunkelsten Momenten die Hoffnung nicht zu verlieren.

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Bild: ASphotowed/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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