Höflichkeit im Job gilt als wichtige Tugend. Aber wer immer nur nett ist, kann Karrierechancen verpassen und läuft Gefahr, bei wichtigen Projekten übersehen zu werden. Hier erfahrt Ihr, wieso Ihr nicht nett sein solltet, sondern authentisch und kompetent!

Sarah ist 24 und arbeitet seit vier Jahren im selben Betrieb. Sie ist immer ausgesprochen liebenswürdig, höflich und hilfsbereit. Trotzdem vertraut die Chefin ihr immer nur Routineaufgaben an, die Sarah langweilen. Ihr Kollege dagegen, der später als Sarah in die Firma kam, wird in wichtige Projekte eingebunden und kann seiner Kreativität freien Lauf lassen. Und natürlich heimst auch er das Lob ein, wenn ein Kunde begeistert ist. Aber was macht Sarah falsch? Wieso bekommt sie keine Chance, ihr Potenzial zu zeigen? Ist ihre Höflichkeit etwa ein Hindernis auf der Karriereleiter?

Was bedeutet Höflichkeit genau?

Tatsächlich stammt der Begriff Höflichkeit aus dem Mittelalter. Höflichkeit war ursprünglich ein wichtiger Teil des höfischen Lebens, der den Adel vom »gemeinen Volk« unterschied. Wer sich höflich zu benehmen wusste, beherrschte Etikette und Konversation und speiste mit Fürsten und Königen an der hohen Tafel. Die Regeln zu kennen war eine Art Geheimcode, der Zugehörigkeit garantierte.

Höfliches Benehmen wies hin auf eine adelige Herkunft und im damaligen Weltbild blieben die Adeligen unter sich. Nach heutigen Maßstäben würden wir sagen, dass der Vorstand eben nicht in der Kantine tagt, sondern im Konferenzraum.

Und obwohl wir die ständische Gesellschaft hinter uns gelassen haben und Karrieren nicht mehr durch adelige Geburt, sondern durch Bildung und Leistung bestimmt werden, machen wir noch heute den Fehler, Höflichkeit mit Unterwürfigkeit zu verwechseln. Durch die Jahrhunderte hinweg änderte sich das allgemeine Verständnis der Höflichkeit natürlich grundlegend. Gutes Benehmen wurde zu einem Privileg der breiten Masse.

Höflich zu sein, die Etikette am Arbeitsplatz zu kennen und Hierarchien zu respektieren, zählt noch heute zu den sogenannten Soft Skills, also zu den Fähigkeiten, die über die berufliche Fachkompetenz hinausgehen. Doch Höflichkeit kann auch zur Falle werden, denn per Definition dient sie einem konfliktfreien Miteinander. Menschen, die ihre Kompetenzen der Höflichkeit unterordnen, schaden der eigenen Karriere.

  • Wer nicht wagt, zu widersprechen, obwohl er recht hat, wird vielleicht als nett wahrgenommen, aber nicht als kompetent.

  • Wer immer nur höflich zur Seite tritt, überlässt anderen das Feld!

  • Wer ständig andere ausreden lässt, kommt selbst nicht zu Wort.

  • Wer mit Höflichkeit jeden Konflikt vermeiden will, wird schnell übersehen und übergangen.

Menschen, die mit einem netten Lächeln jeden Konflikt vermeiden, gelten zwar als teamfähig und angenehm, sie verstecken sich aber auch vor der Herausforderung, Verantwortung und Führung zu übernehmen. Wenn Ihr also immer nur freundlich und lieb seid, bekommt Ihr auch die Aufgaben, die keine Verantwortung erfordern und die sonst niemand machen will – die Kollegen wissen ja, dass Ihr immer noch dankbar lächelt, wenn sie ihren langweiligen Papierkram auf Eurem Schreibtisch abladen, Ihr macht das doch gern. Oder?

Wieso ist Kompetenz wichtiger als Höflichkeit?

Der Fachkräftemangel nimmt immer weiter zu. Schon jetzt gibt ein Viertel aller Unternehmen an, durch den bestehenden Mangel an kompetenten Arbeitskräften behindert zu sein. Studien belegen, dass vor allem der Mittelstand darunter leidet, dass qualifizierte Bewerber:innen ausbleiben. Wichtige Stellen bleiben unbesetzt.

Darunter leidet aber nicht nur die Wirtschaft. Darunter leiden auch Arbeitskräfte, die sich unter Wert verkaufen und die hinter ihrem Potenzial zurückbleiben – etwa, weil sie sich nicht zutrauen, ihre Karriere aktiv zu gestalten und durch Weiterbildung neue Kompetenzen zu erlangen. Ihr Potenzial zu entfalten und das Ausbildungsniveau zu steigern, gibt Menschen aber das Gefühl, einen wertvollen Beitrag leisten zu können. Kompetenzen zu erwerben hilft also nicht nur Euren Arbeitgebern, es hilft vor allem Euch selbst – weil es glücklich macht, einer sinnerfüllten Arbeit nachgehen und den eigenen Job aktiv gestalten zu können.

Wie zu viel Höflichkeit Eure innere Haltung beeinflusst

Wenn zwei Menschen gleichzeitig durch dieselbe Tür gehen wollen, tritt oft einer mit einem höflichen Lächeln zurück, um den anderen vorzulassen. Dieser andere war vielleicht einfach schneller, selbstbewusster, zielstrebiger. Auf jeden Fall kommt er früher ans Ziel als ein Mensch, der ständig höflich Platz macht. Welcher von beiden ist jetzt für ein Unternehmen vielversprechender?

Wir alle haben als Kinder gelernt, dass wir höflich, unauffällig und artig sein müssen, um Ärger zu vermeiden und um positive Rückmeldung zu bekommen. Die Arbeitswelt ist aber keine Grundschule. Ganz besonders in der freien Wirtschaft, im Kreativbereich oder in Führungspositionen werden Menschen gebraucht, die Initiative zeigen und bereit sind, eine Vorkämpferrolle zu übernehmen. Solche Rollen auszufüllen funktioniert nicht mit Nettigkeit und Angst vor Konflikten. Also geht zuerst durch die Tür!

»Und wenn ich gar nicht unhöflich sein möchte?«

Eine gute Frage. Wenn Ihr unter unhöflichem Benehmen versteht, die Füße auf den Tisch zu legen, Eure Vorgesetzten nicht zu grüßen und laut über die Fehler Eurer Kolleg:innen zu lachen, habt Ihr vollkommen recht. Vergesst es, seid lieber höflich! Wenn Ihr aber bereit seid, zu überprüfen, wann Euer erlerntes höfliches Benehmen zur Karrierebremse wird, könnt Ihr Euer Potenzial entfalten.

  • Nehmt Euch in Meetings nicht zurück, weil Ihr gelernt habt, dass es höflicher ist, still zuzuhören. Wenn Ihr etwas mit Substanz zu sagen habt, dann tut das!

  • Erkennt Eure Grenzen! Wenn es Euch ausbremst, immer nur mit langweiligen Routineaufgaben betraut zu werden, dann bittet um mehr Verantwortung.

  • Eure Kompetenzen sind Euer Kapital! Behaltet nicht für Euch, was Ihr könnt und wisst, weil Kolleg:innen älter, besser bezahlt oder länger im Betrieb sind. Zeigt, was Ihr könnt!

  • Wenn Ihr kreative Ideen habt, behaltet sie nicht für Euch aus Angst, dass andere Teammitglieder sich vorgeführt fühlen könnten, weil sie die Idee nicht hatten. Euer Unternehmen braucht Eure Kreativität, kann sie aber nur honorieren, wenn Ihr sie auch zeigt!

  • Wenn andere sich mit Euren Federn schmücken und Lob einheimsen für die Arbeit, die Ihr gemacht habt, stellt das richtig! Bleibt ruhig und klar, aber stellt es richtig!

Auf falsche Höflichkeit zu verzichten, bedeutet nicht, dass Ihr auf Eure soziale Kompetenz verzichten sollt. Es bedeutet, dass Ihr aufhört, Eure eigenen Bedürfnisse den Regeln eines konfliktfreien Miteinanders unterzuordnen. Eignet Euch konstruktive Skills im Konfliktmanagement an, anstatt hilflos zu lächeln, damit Euch alle nett finden. Nett zu sein bringt Euch nicht weiter. Kompetenz und Selbstbewusstsein dagegen verleihen Euch die natürliche Autorität, die auf dem Arbeitsmarkt jetzt dringend gebraucht wird.

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