Unattraktive Arbeitgeber beschweren sich am lautesten. Doch der angebliche Fachkräftemangel könnte ein Vorwand sein, um von der eigenen Veränderungsresistenz abzulenken – und davon, dass qualifizierte Fachkräfte sich lieber woanders eine Stelle suchen.

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Fachkräftemangel: Was steckt hinter dem Begriff?

In den Medien macht er seit Jahren die Runde: der Fachkräftemangel in Deutschland. Die inflationäre Verwendung des Wortes verschleiert jedoch, inwiefern hierzulande tatsächlich qualifiziertes Personal fehlt. Was spricht dafür? Indizien für einen Fachkräftemangel könne grundsätzlich

  • eine überdurchschnittliche Gehaltsentwicklung,
  • mehr offene Jobstellen als Bewerber und
  • eine längere Zeit, die vergeht, bis eine derzeit offene Stelle in einem Unternehmen besetzt werden kann (Vakanzzeit), sein.

Nicht flächendeckend: Fachkräftemangel nur in spezifischen Branchen und mit regionalen Unterschieden

Die Frage, ob in Deutschland ein Fachkräftemangel herrscht, kann mit einem eindeutigen „Jein“ („Ja“ und „Nein“) beantwortet werden, denn es herrscht Uneinigkeit und der Mangel begrenzt sich auf Regionen und Branchen. Es wird gar der Ruf nach dem „Mythos Fachkräftemangel“ laut. Das Gejammere käme vor allem von Unternehmen und Arbeitgebern: Es stimme nicht und man solle nicht so tun, so Lars Fiehler (IHK Dresden), als gingen einem tatsächlich die Menschen aus.

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Schieben Unternehmen mit dem scheinbaren Fachkräftemangel und der Beschwerde, es gäbe zu wenig qualifizierte Fachkräfte, ein widerlegbares Argument vor, um das eigentliche Problem zu vertuschen – nämlich: dass sie mit ihren Strukturen zu starr und unattraktiv sind, um Mitarbeiter anzulocken? Denn man könnte davon ausgehen, dass Arbeitnehmer sich vor allem deshalb unmotiviert fühlen und wegbleiben. Man könnte sagen: Es existiert ein Motivationsproblem.

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Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) geht hingegen von großen Engpässen in vielen Unternehmen aus; schauen wir uns die branchenspezifischen Zahlen an, herrscht in einigen Berufen ein Mangel an qualifiziertem Personal. Einen Fachkräftemangel gibt es demnach zum Beispiel in der Pflege, in den MINT-Berufen und im Handwerk. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschatz (BMWK) verweist auf die Lage in den neuen Bundesländern sowie in Süddeutschland, denn dort sei der Mangel größer und Betriebe stuften die Lage als gefährdend für das Geschäft ein, so das BMWK.

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Die Bundesagentur für Arbeit (BA) sieht – genau wie das BMWK – dennoch keinen deutschlandweiten Mangel. Was also nicht existiert, ist ein flächendeckender Fachkräftemangel, wie auch Volkswirt Karl Brenke (DIW Berlin) bestätigt. Vielmehr handelt es sich um regionale Unterschiede.

Motivationsproblem in Deutschland: Worum geht es?

Um qualifizierte Fachkräfte zu finden, müssen Unternehmen selbst den Finger in die Wunde legen. Es genügt nicht mehr, das Problem auf einen scheinbaren Fachkräftemangel zu schieben. Der tiefgreifende Wandel der Arbeitswelt, die Digitalisierung, das Thema Führungskultur – an allen Ecken und Enden besteht Handlungsbedarf. Die Mitarbeiterzufriedenheit und Motivation deutscher Fachkräfte sinkt, wenn Unternehmen nicht mit der Zeit gehen und sich auf ihre bisherigen Strukturen versteifen. Allen voran kommt es auf folgende Punkte besonders an:

1. Moderne Führungskultur

Die Wechselbereitschaft von Arbeitnehmern steigt heute immer häufiger parallel zur Unzufriedenheit mit der Führungskultur eines Unternehmens an. Passt die Beziehung zum Chef nicht, sind Mitarbeiter schneller weg (als es vielen Betrieben lieb ist). Verführerisch klingende Stelleninserate mit Beschreibungen wie „flache Hierarchien“ samt „kurzen Entscheidungswegen“ triefen nur so vor Modernität, doch die Realität im Unternehmen entscheidet, ob es sich um Taktik oder Wahrheit handelt.

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Damit Mitarbeiter und Bewerber motiviert bleiben, bedarf es deshalb nicht nur der Aufarbeitung der eigenen Strukturen in Sachen Führung, sondern auch der Umsetzung und Etablierung einer verbesserten Struktur. Bereits vorhandene Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle, aber auch Neubesetzungen bringen frischen Wind ins Unternehmen.

2. Nicht nur arbeiten, sondern ein Privatleben haben und auch leben

Der Wunsch nach flexiblen Arbeitszeiten wächst ebenfalls mit dem Realisierungspotenzial, denn die Pandemie war das beste Beispiel dafür, dass es machbar ist. Homeoffice und agile Arbeitsmethoden stehen im Fokus, während aber einige Unternehmen sich bis heute dagegen wehren, auf das Flexibilisierungsbedürfnis ihrer Mitarbeiter einzugehen.

Die Sehnsucht nach einer freieren Arbeitszeitgestaltung deckt sich mit dem Wunsch, mehr zu leben – und nicht nur zu arbeiten. Zentrale Themen hierbei sind die mentale und körperliche Gesundheit, die spätestens seit der Generation Y und der Forderung nach einer besseren Work-Life-Balance an Bedeutung gewinnt.

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3. Die Suche nach dem Sinn

Zu den größten Motivationsfaktoren der jungen Generation gehört die Suche nach einem Beruf, der Sinnhaftigkeit bietet. Fehlt diese, verwundert die fehlende Motivation nur wenig. Gemeint ist vor allem die Übereinstimmung mit eigenen und vertretbaren Wertvorstellungen. Die intrinsische Motivation spielt eine zentrale Rolle, sodass monetäre Anreize und Ansehen allein nicht mehr genügen, um junge Nachwuchstalente zu motivieren und zu inspirieren.

Aber: Geld spielt natürlich eine Rolle – unter Wert werden sich junge Fachkräfte heute seltener verkaufen.

Fehlt Arbeitnehmern der Sinn, fehlt auch die Bindung an das Unternehmen. Diese aber ist Voraussetzung für Arbeitszufriedenheit, Motivation und Produktivität. Ein enger Zusammenhang besteht zum Thema Wertschätzung, die Voraussetzung für ein gutes Arbeitsklima ist, um sich mit dem Arbeitgeber identifizieren zu können. Arbeit muss also nicht nur erfüllend sein, sondern anerkannt werden, um Fachkräfte zu begeistern.

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4. Schlanke Bewerbungsprozesse mit geringen Hürden

Es ist die Frühphase im Bewerbungsprozess, die Fachkräfte und Bewerber dazu bringt, schnell abzuspringen. Schuld sind die intransparente Kommunikation, der Aufwand, die fehlende Rückmeldung, die Komplexität, die abgeschafft gehört. Bereits in der Kennenlernphase zwischen potenziellen Arbeitnehmern und potenziellen Arbeitgebern kann es schnell zu einem Scheitern kommen, bevor es überhaupt zu einem richtigen Jobinterview kommt.

Der Recruiting-Prozess gehört deshalb zu den wichtigsten Bausteinen von Unternehmen, die sich über fehlende Fachkräfte beklagen, selbst jedoch nicht hinschauen möchten, um eigene Verantwortlichkeiten zu vertuschen.

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Auch Arbeitsplatzsicherheit spielt zunehmend eine Rolle

In Anbetracht der Debatte um einen Fachkräftemangel, welche sich in Krisenzeiten zuspitzt, wandeln sich auch die Prioritäten einiger Arbeitnehmer. Zwar wollen sie selbst die Wahl haben, dort zu arbeiten, wo sie möchten, aber auch die Sicherheit. Arbeitsplatzsicherheit lautet hier das Stichwort: Sie wird wieder wichtiger. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag kann in unsicheren Zeiten deshalb sicherlich einige Wunder bewirken. Auch wenn eine 100-prozentige Sicherheit nie gewährleistet werden kann.

Fachkräftedefizit und Arbeitslosigkeit: Es braucht Qualifizierung

Dass zwar nicht flächendeckend, aber zumindest in speziellen Branchen Fachkräfte tatsächlich fehlen, wurde bereits deutlich. Ein weitverbreiteter Irrtum lautet, dass eine steigende Arbeitslosenquote gegen einen Fachkräftemangel spricht.

Dem ist nicht so: Auch wenn es zunehmend mehr Menschen gäbe, die in die Arbeitslosigkeit abrutschen, würde dies nicht automatisch bedeutend, dass Unternehmen nicht händeringend, zumindest in den betroffenen Branchen, nach qualifiziertem Personal suchen.

Qualifiziert lautet hier das Stichwort: Fachkraft können sich nur diejenigen nennen, die tatsächlich über eine einschlägige Ausbildung und anschließender Berufserfahrung verfügen. Der Unterschied zwischen einem generellen Arbeitskräftemangel und einem Fachkräftemangel liegt deshalb in der Qualifikation der jeweiligen Gruppe. Das kontinuierliche Absenken von Standards, um überhaupt Arbeitskräfte zu bekommen, ist keine Lösung und wird langfristig fatale Folgen haben.

Hier kommt der Teufelskreis „Niedriglohnsektor“ ins Spiel: Weil Arbeitslose häufig schnell in Jobs vermittelt werden (sollen), um wieder am Berufsleben teilzunehmen, landen sie früher oder später – das trifft beispielsweise auf Leiharbeiter zu – wieder in der Arbeitslosigkeit. Demnach braucht es Qualifizierungsangebote und keine perspektivlosen Vermittlungen als kurzfristige Lösung. Insbesondere gilt dies für Frauen und Mütter, die häufiger im Niedriglohnsektor arbeiten und aufgrund ihrer Erwerbsbiografien im Alter tendenziell armutsgefährdet sind.

Angebote für eine berufliche Qualifizierung geben nicht nur Arbeitslosen eine Perspektive, sondern auch langjährig Beschäftigten. Denn in einer dynamischen Arbeitswelt sehnen auch diese sich nach Weiterbildungen und Aufstiegschancen. Nur so kann das Motivationsproblem beseitigt werden: Deutschlands Arbeitnehmer wünschen sich Perspektiven, die zu ihrem beruflichen und privaten Lebensentwurf passen und ihnen Freiraum zur Weiterentwicklung bieten. Und: Leistung muss sich wieder lohnen.

Nachgefragt: Ist der heiß diskutierte Fachkräftemangel in Deutschland ein reales Problem oder eher Mythos? Wie beeinflusst die Qualifikation der Arbeitskräfte diese Debatte? Sind niedrigere Standards eine Lösung oder schaffen sie eher mehr Probleme?

Bild: CrackerClips/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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