„Warum bist du so zurückhaltend?“: Für Introvertierte hat der Versuch, extrovertierter zu sein, wissenschaftlich erwiesene Nachteile.

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Extraversion: Das oft angestrebte Ideal vieler Menschen

Extrovertierte werden als laut, mutig, risikofreudig und kommunikativ wahrgenommen. Sie dominieren den Berufsalltag. Obwohl davon ausgegangen wird, dass mehr als 30 bis etwa 50 Prozent der Menschen eher zur Introversion neigen und die Zahl abhängig von kulturellen Normen – etwa in Japan – sogar höher ist, wird oft nach dem Ideal der Extraversion gestrebt.

Viele wollen so sein: offener, etwas selbstsicherer, etwas kommunikativer. Gerade introvertierten Menschen, die ein eher zurückhaltendes Wesen haben, fällt es schwer, sich einer lauten Welt anzupassen. In vielen sozialen Situationen scheinen die Offenen, die Extrovertierten das Rennen zu machen – sei es im Bewerbungsgespräch, im Kundengespräch oder bei einer Präsentation vor dem Team. Auch wenn Introvertierte zahlenmäßig überwiegen, sind es demnach die Lauten, Mutigen, die besser ankommen, ihren Charme zeigen, andere zum Lachen bringen und sich so einen Platz im Herzen ihrer Mitmenschen sichern.

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Welche Vorteile hat Streben nach Extraversion?

Studienergebnisse belegen, dass Menschen, die zurückhaltender sind, zunächst davon profitieren, wenn sie sich offener, extrovertierter zeigen. Demnach fühlen sie sich insgesamt glücklicher und zeigen eine höhere Durchsetzungskraft. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie dank ihrer energischen Art eher in der Lage sind, ihren Willen zu bekommen und dass die Selbstsicherheit wächst. Gerade im Berufsalltag sind dies bedeutende Benefits, die uns weiterbringen können.

Zudem kann es Introvertierten auch dabei helfen, schneller neue Kontakte zu knüpfen, wenn sie sich darin üben, offener auf andere zuzugehen. Da Menschen mit ausgeprägten introvertierten Merkmalen sich in sozialen Situationen tendenziell zurückhalten, kann auch diese neue Offenheit Karrierevorteile bringen.

Studien belegen: Nachteile überwiegen langfristig

Trotz der Vorteile sollten Menschen mit introvertierter Ader berücksichtigen, dass es oft ein kurzfristiger Effekt ist, sich anzupassen und offener zu sein, der eine hohe Anstrengung erfordert, oftmals eine zu hohe.

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Für Zurückhaltende hat das wissenschaftlich erwiesene Nachteile: Eine weitere Studie konnte belegen, dass wir uns geistig erschöpft fühlen, nachdem wir uns in einer sozialen Situation extrovertierter als sonst gezeigt haben.

Für Introvertierte bedeutet mehr Offenheit, lauter zu sein und sich teilweise zu verstellen, sodass viele mentale Ressourcen verbraucht werden. Müdigkeit, psychische Erschöpfung und das Bedürfnis danach, sich zurückzuziehen, können dann verstärkt auftreten.

Im Job hat dieser Zustand viele Nachteile: Die Produktivität sinkt, die Energie, Aufgaben zu erledigen, ist nicht mehr vorhanden. Die Konzentration nimmt ab.

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So bleiben, wie man ist: Deshalb sollten Introvertierte zu nichts gedrängt werden

Hinter dem Phänomen, dass Introvertierte sich beim Streben nach Extraversion schnell erschöpft und ausgebrannt fühlen, soll vor allem die Konzentration auf das eigene Innenleben, die jetzt nach außen gekehrt werden muss, sowie die übermäßige Stimulation (Reizüberflutung) des Gehirns in sozialen Situationen stecken.

Introvertiertheit (Introversion) hat der berühmte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung beschrieben: Wer introvertiert ist, fühle sich von seiner Innenwelt angezogen, von dem, was man denkt und spürt. Extrovertierte fokussierten sich auf das, was im Außen stattfindet, auf Handlungen, Menschen, Aktivitäten. Sie zögen demnach ihre Kraft aus dem, was um sie herum geschieht, während die Stillen Energie schöpfen, wenn sie sich auf ihr Inneres konzentrieren. Verstehen wir als Introvertierte und Extrovertierte auf diese Weise, was wir brauchen, um uns mental fit zu fühlen, kann dies der beste Weg zur Ausgeglichenheit sein.

Dennoch fällt es einigen Menschen mit introvertiertem Wesen schwer, den gesellschaftlichen Druck auszuhalten, der beispielsweise auch im Job zu spüren ist: Man solle offener, mutiger, risikobereiter sein. Man solle doch mal „mehr lächeln“ und „nicht so schüchtern“ sein. Sich verstellen zu müssen, weil man Druck verspürt, kann jedoch das Gegenteil bewirken.

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Mitarbeiter oder Kollegen, die dazu gedrängt werden, eine neue Seite zu zeigen, geraten an ihre persönlichen Grenzen, wenn sie keine weiteren inneren Ressourcen aufbringen können. Mögliche Folgen: Sie kündigen innerlich, ziehen sich zurück, entwickeln Ängste.

Wie können Introvertierte gefördert und unterstützt werden?

Die Arbeit mit Menschen statt mit Ressourcen wird in Unternehmen mit modernen Führungsstrukturen wichtiger. Vor allem für Führungskräfte ist es heute deshalb von großer Bedeutung, sich mit den unterschiedlichen Persönlichkeitstypen auseinanderzusetzen.

Ob zeitliche Ressourcen berücksichtigen oder die passenden Aufgaben delegieren – wer mit introvertierten Kollegen arbeitet, kann auf folgende Punkte Rücksicht nehmen, um für eine gute Arbeitsatmosphäre zu sorgen und Mitarbeiter zu binden:

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1. Kein „Knall auf Fall“: Vorausschauendes Planen reduziert Stress

Es steht ein Meeting an? Es müssen schnell Entscheidungen getroffen werden? Eine vorausschauende Planung inklusive Agenda und Vorbereitung helfen nicht nur zurückhaltenden Mitarbeitern, die mehr Zeit brauchen, um eine Informationsflut zu verarbeiten und Gesagtes zu reflektieren. Der Stress kann für das gesamte Team reduziert werden, wenn Entscheidungsprozesse strukturiert ablaufen.

Führungskräfte sollten deshalb auch ihre eigene Erwartungshaltung reflektieren: Jeder Mitarbeiter hat seine Stärken, ein anderes Wesen und sein eigenes Tempo. Während einige schnell zu Wort kommen, benötigen andere etwas mehr Zeit. Wann immer möglich, sollten Meetings deshalb stets mit ausreichend Vorlaufzeit geplant werden, um auch denjenigen eine Chance zu geben, die mehr Zeit brauchen, um mentale Ressourcen zu aktivieren, um an einer sozialen Situation teilnehmen zu können.

2. Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar kommunizieren

Für extrovertierte Mitarbeiter ist es einfach, sich spontan auf anstehende Aufgaben und Herausforderungen einzulassen, die im Team stattfinden. Die Stärke introvertierter Menschen ist es, zur Höchstform aufzulaufen, wenn sie für sich arbeiten dürfen und Ruhe haben. Beides sollte nach Möglichkeit ausbalanciert stattfinden – sowohl die Gruppensituation als auch die Einzelarbeit.

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Es gilt, auf beide Persönlichkeitstypen einzugehen: Führungskräfte können Aufgaben entsprechend delegieren und auf die Stärken und Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter eingehen, indem sie unterstützend und vorausschauend agieren und vor allem klar kommunizieren. Das bedeutet, dass anstehende Herausforderungen und Aufgaben, die erledigt werden müssen, einer transparenten Kommunikation und Absprache bedürfen.

3. Aktiv nach Rückmeldungen fragen, aber nicht einschüchtern

Zwar ist es Aufgabe des Mitarbeiters, sich selbstständig in Teamgesprächen einzubringen und auch Feedback zu geben. Für Introvertierte bedeutet dies jedoch, sich immer wieder zu überwinden. Um ihnen diesen Schritt zu erleichtern, können Führungskräfte aktiv nach einer Rückmeldung fragen, um Mitarbeiter zu ermuntern. Zudem signalisiert das aktive Nachhaken Interesse an der Meinung des Arbeitnehmers.

Dies muss nicht unbedingt vor versammelter Mannschaft geschehen – denn auch ein persönliches Gespräch unter vier Augen oder eine E-Mail helfen. So soll es möglich sein, dass diese sich künftig aktiver beteiligen und eigenständig Schritte nach vorne wagen, ohne sich jedoch dazu gezwungen zu fühlen. Je „freiwilliger“, desto besser.

Introvertierte Menschen: Das macht sie zu wertvollen Mitarbeitern

Nicht immer muss es auffällig oder laut sein, um zu überzeugen. Zurückhaltende Mitarbeiter, die viel Zeit für sich brauchen, sind aus unterschiedlichen Gründen eine Bereicherung für die gesamte Belegschaft:

  • Sie sind zumeist aufmerksame Zuhörer.
  • Sie sind reflektiert und bewahren die Ruhe.
  • Sie sind taktvoll und gefragte Gesprächspartner in schwierigen Situationen.
  • Sie verfügen über eine ausgeprägte Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe.
  • Sie können analytisch denken.
  • Sie sind in der Lage, eigenständig und unabhängig zu arbeiten

Nachgefragt: Wie können Unternehmen und Führungskräfte eine Arbeitskultur schaffen, die sowohl introvertierte als auch extrovertierte Arbeitsstile berücksichtigt und gleichzeitig das Bewusstsein für die Risiken einer erzwungenen Extraversion stärkt?

Bild: FG Trade Sao Paulo, Brazil/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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