Das Vorstellungsgespräch ist der Kernpunkt eines jeden Bewerberauswahlprozesses. Zwar setzen immer mehr Unternehmen auch auf Assessment Center, eine vollständige Abschaffung des Bewerbungsgespräches scheint aber völlig undenkbar. Ein großer Fehler, so die Meinung vieler Experten. Sie plädieren für dessen Abschaffung – und zwar schnell. Aber wieso? Und wie sähe eine Alternative aus?
Zeit ist das wertvollste Gut in unserer Gesellschaft
Viele Menschen unserer westlichen Gesellschaft leben unter ständigem Zeitdruck. Sie hetzen von Termin zu Termin und genießen meist nur an Sonn- und Feiertagen ein wenig persönlichen Freiraum beziehungsweise Freizeit, um die Füße hochzulegen und einfach nichts zu tun, mit den Kindern zu spielen oder Hobbys nachzugehen. Der Alltag ist geprägt von Terminen, Zehn-Stunden-Arbeitstagen und einer nicht enden wollenden To-Do-Liste. Gerade ein Bewerbungsprozess kann in diesem Rahmen schnell zur zusätzlichen Belastung werden. Wer sich nicht aus der Arbeitslosigkeit, sondern einer Anstellung heraus bewirbt, muss seine zeitlichen Ressourcen sparsam einteilen.
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Je nach Karriereplan, steht diese aufreibende Zeit einigen deutschen Arbeitnehmern durchschnittlich alle zwei Jahre bevor. Klingt anstrengend? Ist es auch! Aus diesem Grund schrecken viele Menschen vor häufigen Jobwechseln zurück – trotz derer zahlreichen Vorteile. Wieso lässt sich der Bewerbungsprozess nicht einfacher und vor allem zeitsparender gestalten, fragen Experten deshalb? Sie fordern die Abschaffung der Vorstellungsgespräche, denn diese seien reine Zeitfresser und für die passende Bewerberauswahl ohnehin nicht geeignet.
Unternehmen verschwenden viel Zeit und Geld mit Bewerbungsgesprächen
Auch bei Unternehmen ist die Zeit natürlich ein knappes Gut, das will an dieser Stelle noch einmal explizit erwähnt sein. Für sie ist es vor allem aus finanzieller Sicht interessant, über Alternativen zum Vorstellungsgespräch nachzudenken. Dadurch ließen sich personelle Ressourcen einsparen. Die Personaler könnten ihre Zeit also effizienter und für wirksamere Methoden zur passgenauen Bewerberauswahl nutzen.
Je besser der Bewerber schlussendlich zum Unternehmen passt, umso zufriedener wird er sein. Er ist dementsprechend motivierter, verfügt über eine höhere Leistungsbereitschaft und eine festere Bindung zum Arbeitgeber. Dies reduziert die Mitarbeiterfluktuation und hält das Knowhow im Unternehmen. Gerade in vom Fachkräftemangel betroffenen Branchen kann das Rekrutieren und Halten von qualifizierten Mitarbeitern langfristig über Erfolg oder Misserfolg einer Unternehmung entscheiden. Es ist deshalb die Kernaufgabe jedes Personalers, hinter die Kulissen eines Bewerbers zu blicken. Je besser er dessen menschliche und fachliche Eignung einschätzen kann, umso höher die langfristigen Erfolgschancen des Betriebs.
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Das Problem mit den Vorstellungsgesprächen
Diese menschliche und fachliche Eignung im Rahmen eines Bewerbungsgespräches, welches eine halbe, ganze oder in Extremfällen auch zwei Stunden geht, einzuschätzen, ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit, da sind sich die Psychologen einig. Sie halten das Modell „Vorstellungsgespräch“ deshalb für veraltet, unfair und alles andere als zielführend. Das Risiko einer Fehlbesetzung ist hoch. Diese kann das Unternehmen teuer zu stehen kommen. Ungeeignete Fach- und Führungskräfte enttäuschen nicht nur hinsichtlich ihrer Leistung, sondern können Konflikte im Team hervorrufen und dadurch die Arbeitsatmosphäre vergiften.
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Dies wiederum erhöht die Krankenstände sowie Mitarbeiterfluktuation in der betroffenen Abteilung und dadurch die Kosten für den Arbeitgeber. Gleichzeitig sinken die Produktivität und Motivation der Mitarbeiter, was ebenfalls höhere Folgekosten verursacht. Fehlentscheidungen bei der Personalauswahl können sich also gerade in Schlüsselpositionen wie ein Rattenschwanz durch den Betrieb ziehen – mit zahlreichen negativen Konsequenzen.
Ist die Hybris der Personaler schuld an dem Dilemma?
Dass so viele Unternehmen dennoch am eigentlich veralteten Vorstellungsgespräch festhalten, liegt auch in der Hybris der Personaler begründet. Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 setzen diese in erster Linie immer noch auf das Bewerbungsgespräch als wichtigstes Auswahlkriterium bei der Stellenbesetzung. Knapp dahinter kommt der Lebenslauf. Erst auf dem dritten Platz folgen die eigentlich sinnvolleren Kompetenztests.
Wieso? Ganz einfach: Viele Personaler sind sich ihrer Menschenkenntnis sicher und vertrauen daher auf ihre Intuition sowie Erfahrung bei der Wahl des geeigneten Bewerbers für eine vakante Stelle. Leider ist das in den meisten Fällen nicht mehr als reine Selbstüberschätzung. Das heißt keinesfalls, dass Personaler flächendeckend inkompetent sind. Sie sind allerdings auch keine Hellseher und leider sind genau jene Bewerber, welche sie garantiert nicht im Unternehmen wollen, häufig wahre Meister des Schauspiels.
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Vor allem Narzissten, Psychopathen und Soziopathen präsentieren sich im ersten Moment nämlich häufig charmant, eloquent und selbstbewusst. Sie sind der Typ Mensch, welcher auf den ersten Blick begeistern kann – aber erst auf den zweiten, fünften oder fünfzigsten Blick sein wahres Gesicht offenbart.
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Es ist absolut menschlich, auf dieses Schauspiel hereinzufallen. Selbst die beste Menschenkenntnis kann dir dabei manchmal einen Strich durch die Rechnung machen. Zwar kennen erfahrene Personaler vielleicht den ein oder anderen Trick, um Narzissten beziehungsweise Psychopathen durch ihre Fragen zu entlarven, mit Sicherheit lässt sich eine solche „Diagnose“ aber häufig erst nach mehreren Wochen, Monaten oder sogar Jahren aufstellen.
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Einen Teil der Verantwortung trägt auch der sogenannte „Halo-Effekt“
Doch nicht nur die hohe Kunst der Täuschung von Narzissten oder Menschen mit ähnlicher Persönlichkeitsstörung ist dafür verantwortlich, dass sich Personaler in ihrer Wahl beim Bewerbungsgespräch erschreckend häufig irren. Auch der sogenannte „Halo-Effekt“ trägt einen nicht unerheblichen Teil dazu bei.
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Beim „Halo-Effekt“ – also „Heiligenschein-Effekt“ – handelt es sich um ein Phänomen, bei welchem das Gehirn unbewusst von einer positiven auf alle anderen Eigenschaften eines Menschen schließt. Diese eine positive Eigenschaft, welche alle anderen „überstrahlt“, lässt also negative Persönlichkeitsaspekte in den Hintergrund rücken und den Menschen dadurch in einem besseren, eigentlich aber unrealistischen Bild erscheinen. Diese Verzerrung findet im Gehirn automatisch sowie unterbewusst statt. Selbst der erfahrenste Personaler ist dagegen also machtlos. Der „Halo-Effekt“ kann
- falsche Entscheidungen bei Bewerbungsprozessen,
- realitätsferne Leistungsbeurteilungen oder
- unfaire Beförderungsentscheidungen
nach sich ziehen. Ein prominentes Beispiel ist die physische Attraktivität: Menschen mit einem „schönen“ Äußeren werden häufig auch mit einem entsprechend positiven Inneren in Verbindung gebracht. Das bedeutet: Ein attraktives Gegenüber schätzt du automatisch als kompetenter, sympathischer, selbstbewusster, erfolgreicher oder glücklicher ein. Aus diesem Grund ist auch die viel diskutierte „Schönheitsprämie“ leider kein Gerücht, sondern unfaire Realität.
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Welche Alternativen zum Vorstellungsgespräch gibt es?
Dass ein Gespräch von wenigen Minuten nicht ausreicht, um einen Menschen realistisch einschätzen zu können, klingt also einleuchtend. Dennoch sind sich viele Personaler schlichtweg unschlüssig, welche Alternativen zum klassischen Vorstellungsgespräch sinnvoll wären. Hierfür gibt es aber eigentlich nicht nur eine, sondern gleich drei Möglichkeiten, die es ernsthaft in Erwägung zu ziehen gilt:
1. Arbeitsproben
Experten und Psychologen empfehlen Arbeitsproben anstelle eines Bewerbungsgespräches. Das bedeutet aber nicht, dass du den Bewerber im Hinterzimmer einen Entwurf zeichnen oder ein Konzept ausarbeiten lassen solltest. Je realistischer die Arbeitsumgebung, umso besser kannst du das Verhalten des Anwärters in seiner potenziellen zukünftigen Position beobachten und analysieren. Wer genügend Zeit hat, sollte deshalb einfach ein Praktikum absolvieren oder zumindest für ein bis zwei Probearbeitstage eingeladen werden.
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2. Assessment Center
Das ist allerdings nicht in allen Branchen, Berufen beziehungsweise Positionen üblich und möglich. Was, wenn sich eine Führungskraft aus einer aktuellen Anstellung heraus bewirbt – ohne das Wissen ihres bisherigen Arbeitgebers? Sie wird wohl kaum dazu bereit sein, erst einmal ein zweiwöchiges Praktikum in deinem Betrieb zu absolvieren, bevor du dich für oder gegen sie entscheidest. Gängiger sind je nach Stelle deshalb die guten alten Assessment Center. So verhasst sie bei den Bewerbern auch sein mögen: Sie erlauben den Personalern zumindest einen umfassenderen Eindruck von den Kandidaten und die Beurteilung ihres Verhaltens in verschiedenen (Stress-) Situationen.
Zwar garantiert auch ein AC keine optimale Wahl, doch erhöht es zumindest die Chancen der Entscheidungsträger, hinter die Masken der Bewerber zu blicken, diese dadurch realistischer einzuschätzen und passgenauer auszuwählen. Zudem werden vielleicht Verhaltensweisen beobachtet, die auf eine Persönlichkeitsstörung wie Narzissmus hindeuten könnten. Diese fliegen nämlich häufig in jenen Momenten auf, in welchen sich die Betroffenen scheinbar unbeobachtet fühlen.
3. Blindbewerbung
Die wohl ungewöhnlichste Methode ist die Blindbewerbung. Diese kann vor allem zur Vermeidung des „Halo-Effektes“ eine wichtige Rolle spielen. Während sie in den USA bereits in einigen Unternehmen, Hochschulen und Institutionen in einer Art Pilotprojekt getestet wird, ist sie als Modell in Deutschland noch äußerst ungewöhnlich. Dass die Personaler also irgendwann einmal mit verbundenen Augen im Vorstellungsgespräch sitzen, ist denkbar – aber eher unwahrscheinlich. Diese Variante wäre zudem nur in gewissen Berufen sinnvoll, beispielsweise kreativer Art.
Fazit: Das Bewerbungsgespräch ist ein Auslaufmodell!
Während sich Experten schlüssig sind, dass es das klassische Vorstellungsgespräch in zehn bis 20 Jahren nicht mehr geben wird, scheint es den Unternehmen also noch an sinnvollen Alternativen zu fehlen. Das Bewerbungsgespräch ist unfair, führt zu Fehlentscheidungen und gilt daher als Auslaufmodell – so viel scheint sicher. Doch der Nachfolger wird noch gesucht. Ob es tatsächlich die Blindbewerbung wird, bleibt fraglich. Vielleicht werden sich die Assessment Center verbreiten wie ein Lauffeuer oder die Digitalisierung wird neue Auswahlmöglichkeiten für Personaler hervorbringen, beispielsweise automatische Analysen und Auswertungen durch eine Software, welche bislang noch nicht einmal erfunden sind. Fest steht bislang also nur: Es bleibt spannend!
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